einfach wieder anfangen, einfach nichts erklären, einfach ohne Kontext.
In letzter Zeit denke ich oft daran, wie gut mir das Bloggen getan hat, und wie schade es ist, dass es plötzlich vorbei war.
Die Dinge sind so zahlreich geworden, von denen ich gelernt habe, dass sie mir gut tun und die ich einfach nicht mehr mache. Mit anderen Singen, insbesondere. Wegen der Pandemie, wegen des Erwachsenwerdens und Zeitmangels, oder einfach so.
Inspiration wächst an seltsamen Orten. Da ist die trauernde Freundin, die ihren großen Verlust so schön erzählt. So will ich auch leben, denke ich, wenn ich ihr dabei zusehe, und ich weiß wie ironisch das ist. Und dass ich das eigentlich ihr sagen sollte, nicht nur diesem seltsamen Ort, der gerade so anonym wie möglich und nahezu verschwindend unsichtbar ist.
Kartoffelsuppe. Mit Blumenkohl. Ich, sitzend auf dem orangen Stuhl der hübsch ist. Hübsch sind auch die gleichmäßigen Dielen und die künstlerischen Bilder am Kühlschrank, das chinesische Geschirr im Regal. An der Wand an einem Nagel hängt ein Brötchen, grundlos.
Ich kann mich nicht satt sehen. Ich versuche es, ich gucke bewusst: die Haare, die Rundung der Stirn, die Lachfalten an den Schläfen, die Linien des Körpers, schlank und wendig, kompakt. Ich gucke und er kocht, bewegt sich schnell, schneidet Gemüse, brät Fleisch, zündet den Gasherd mit einem Streichholz an.
Ich werde nicht satt, ihn kochen zu sehen. Oder aufspringen, Wasser holen für uns beide, vielleicht auch nur für mich. Vielleicht helfe ich, schneide Zwiebeln oder schäle Kartoffeln, aber eigentlich kocht er und ich versuche, ihn nicht dafür zu lieben, dass er das tut. Oder putzt. Oder mir Wasser holt.
Lieber will ich ihn lieben, weil ich ihm von diesen Gedanken erzählen kann, und von allen anderen. Weil ich keine Angst haben muss, ihn zu verlieren und es mir möglich ist, zum ersten Mal diese Angst zuzulassen, zu spüren und auszusprechen. Weil ich nackt sein kann und fröhlich und unangestrengt. Auch wenn das Licht an ist. Weil ich nicht kämpfen muss, für all die Dinge, die ich wichtig finde, zwischen Menschen, weil ich mich nie verteidigen muss, nur ausdrücken.
Die Suppe ist fertig und sie sieht hässlich aus und schmeckt fantastisch. Bevor sie alle ist, ist das Gespräch traurig geworden: es geht um große Fragen, um Utopien und zu viele Dinge die nicht gut sind. Ich glaube, ich verstehe ihn besser als er glaubt, er erklärt sich und ich sehe die langen Wimpern und traurige Augen. Zum Trösten suchen wir nach „confused dogs“ auf YouTube und mir fallen schnell die Augen zu.
Wenn ich wieder fahre, in den letzten Momenten davor, kommt meistens der Gedanke: Ich hätte mehr Fotos von ihm machen sollen. Von den bisherigen Momenten des Wiedersehens weiß ich: Ich vergesse nicht das Gesicht, ich vergesse die Farben. Alles ist dunkler, die Haare, die Augen, der Bart. Ein paar mal schon hat mich das überrascht.
Der Abschied naht und ich stelle mir vor, wie ich aus dem Zugfenster sehe und auf Land zwischen unseren Städten blicke, das mir soviel mehr und weiter vorkommt, seit aus den beiden Orten unsere Städte geworden sind. Ich stelle mir vor, dass ich melancholisch bin und dass der Herbst in diesem Moment anfängt, auf der Fahrt zurück in mein Leben, das nur ab und zu Besuch von ihm kriegt.
Und ich weiß, dass ich wieder schreiben muss. Ich weiß noch nicht wie, und wo weiß ich auch eigentlich nicht. Hier bin ich nur aus Verlegenheit. Und schon wieder muss ich zurück zu meiner Sprache finden und einen Raum, wo sie hinkann und mir lieb ist, ohne mir Last zu sein.
Und wie immer ist der Herbst eine gute Zeit, damit anzufangen.
Gestern habe ich einer Freundin noch davon erzählt, was ich alles an M. mag; heute Abend ist er bei mir in der Küche. Wir wollten zusammen essen und mein Fahrrad reparieren und haben dann nur das erste geschafft. Unser Avocadosalat ist so gut geworden, dass wir aufzählen müssen was uns alles daran begeistert, die Liste ist lang. Wir freuen uns, reden viel über kleine Themen und ich denke oft: "wie sehr ich dich mag."
Dann ist der Abend schon fast vorbei, als ich nach dem Mädchen frage, dem Erdbeermädchen, von dem er doch eigentlich mal ausführlich erzählen wollte. Er tut es dann tatsächlich, ausführlich, eine ganze lange Geschichte. Es scheint wichtig zu sein, dass er erzählt, ohne Unterbrechungen, ohne Zwischenfragen. Ganz zu Anfang habe ich eine gemacht, gesagt dass es ein gutes Zeichen ist, wenn man sich früh gegenseitig von wichtigen Menschen in seinem Leben erzählt und er hat angedeutet, dass dies nicht der Ort dafür ist - auf seine Art die ich so mag, wohlbedacht und sanft formuliert, dabei unmissverständlich aber nicht schroff. "Ich möchte dir nicht das Wort verbieten, aber ich hab das Gefühl, das passt grad nicht so."
Während er sprach, habe ich sehr bewusst zugehört. Ich habe Blickkontakt gehalten, genickt, aufmerksam geguckt. Sein Job war die Geschichte, meiner das Zuhören. Wenn M. spricht, sind seine Hände viel unterwegs. Sie fahren durch seine Haare, sein Gesicht seinen Bart, umschlingen seine Arme, wandern auf die Tischplatte, schieben Krümel zusammen, fliegen kurz für eine Geste durch die Luft, streifen die Nase und sind schon wieder in den Haaren. Beim Zuhören habe ich Zeit das zu bemerken und mich zu erinnern, dass mir das schon einmal aufgefallen ist. Ich kann nicht anders, als gerührt zu sein, wie er da sitzt und von seinen Gefühlen spricht und alles in seine ganz besondere Wortwahl kleidet, die ich so mag. "Ich mag dich so", denke ich und es kommt oft vor, dass ich die Zeit nutze, in der er nicht zu mir sieht sondern auf den Tisch, an die Decke oder mein Küchenregal guckt, während er mit Bedacht seine Sätze formuliert um meiner Rührung und meiner Freude, ihn reden zu hören in ein unbemerktes Lädcheln zu investieren.
"Ich mag unseren Style.", sagt er zum Abschied. "Er ist so... entspannt." Ich lächle und sage wie schön ich den Abend fand und denke "Bei so einem Gespräch in der Küche hätte eine Kerze brennen sollen."
Auf einmal ist da ein neuer Gedanke. Ich bin auf dem Nachhauseweg von einer Party und obwohl es schön war, bin ich in einer merkwürdigen Stimmung und meine Gedanken auf der Suche nach kleinen Traurigkeiten, die dazu passen mögen.
Sie kommen an R. vorbei. R. ist einer von den beiden Menschen, die ich mal kannte, die heute nicht mehr leben weil sie es selbst so wollten. Mit meinen kleinen Problemchen und der Suche nach Traurigkeit treffen meine Gedanken also auf R. und den Wunsch sein Leben zu beenden und, stolpern über den immensen Kontrast und geraten kurz in eine bereits ausgefahrene Gedankenrinne. Von dem Aufblitzen der Frage nach dem Warum geht es zu der Erkenntnis, die mittlerweile schon Jahre alt ist, dass Suizid für mich so unvorstellbar ist, dass ich folglich nichts wissen kann, über die Situation eines Menschen, der das in Erwägung zieht. Es liegt völlig außerhalb meiner Erfahrung, meiner Vorstellung, meines Vorstellbaren. Nichts was für mich gilt, kann übertragen werden. Es gibt keine Frage nach dem Warum.
Dann das neue. Vielleicht ist es das. Vielleicht ist es diese völlige Undenkbare, was Menschen einst dazu gebracht hat, Selbstmödern den Zugang zu ihrem Himmelsreich zu verwehren. Es entfernt die, die es tun, kompromisslos von denen, die es nicht tun. Sie verlassen nicht nur die gemeinsame Welt, sondern auch den Bereich des Denkbaren, des Nachvollziehbaren, der gemeinsamen Regeln, des Sich-Hineinversetzens. Es hinterlässt Tatsachen und vielleicht offene Fragen, aber für mich keinen Raum mehr, zum Nachdenken.
Es gibt so viel, was diesen Freundeskreis, der mit seit genau einer Stunde an wieder fehlen wird, besonders macht. Eine Sache sind die Geschichten.
Es ist wie in How I Met Your Mother, uns umgibt eine eigene kleine Welt mit Anekdoten und Skurilitäten, einige sind schon fast zu Legenden geworden und bei keiner anderen Gruppe von Menschen, in denen ich mich bewege, gehören sie so sehr dazu, wie hier.
Heute sind wir zum vorerst letzten Mal für mich zusammengekommen, wir haben in A.s gemütlicher Wohnung, die erwachsen aber nicht einschüchternd eingerichtet ist, haben alkoholfreien Sekt mit Johannisbeersaft getrunken, Tiefkühlpizza und Süßigkeiten gegessen und gestrickt. Das heißt, die anderen haben gestickt. Ich habe schon vor Jahren beschlossen, dass Stricken und Häckeln nicht mein Sport sind und ich vielleicht gerne nähen lernen möchte, aber von dieser Fadenmagie lieber die Finger lasse. Statt dessen habe ich einfach nur auf A.s urgemütlicher Liegewiesencouch geflenzt, war glücklich und habe alles in mich aufgesogen.
An Geschichten ist zusammengekommen: Meine Mutter hat eine skurrile Nazi-Post aus den USA auf ihrer Arbeit bekommen, L. wurde auf einer Besprechung in ihrem von einem Pferd unterbrochen, das einfach zum Fenster hineinsah, A. ist heute unfreiwillig in eine Vorschule eingebrochen und die andere A. hat heute nichts erlebt, konnte mir dafür aber erzählen, dass sich einst ein junger Mann in sie verliebte, als sie ihn in einem Café vermeintlich heimlich gezeichnet hatte.
Wir müssen uns alle mehr Geschichten erzählen.
Ich habe das schon so oft gemacht, zu Besuch in meiner Stadt den Erinnerungen nachgehangen und sie zusammengesammelt, dass ich mir mittlerweile mit innerlich hochgezogenen Augen dabei zusehe, lässig an eine Wand meines Inneren gelehnt, leicht mit dem Kopf schüttelnd.
Ich fahre durch die Straßen, zum letzten Mal bevor der Zug mich morgen wieder wegbringt und sammele. Hier habe ich Silvester gefeiert, bei der Mathelehrerin mit ihrem Papagei und der ukrainischen Austauschschülerin die meine Freundin wurde, kurz vorher hatte ich wild mit diesem Jungen rumgeknuscht ohne zu ahnen, dass es das letzte Mal sein würde. Hier habe ich mal...
Während ich mir dabei zusehe, beim Zusammensuchen von Erinnerungen, fällt mir etwas anderes ein. K. und ich auf dem kleinen Rasen vor meinem Balkon im Plattenbau, in Straßburg. Es war ein warmer Sommertag, wir waren mit einer Decke nach draußen gegangen und ich konnte nur daran denken, dass jetzt dieser Ort, der Rasen vor meinem Balkon, mit einer Erinnerung besetzt sein würde. So einsam war ich damals.
Schon wieder gehe ich durch das Viertel, meiner Stadt, mein Viertel, in dem ich aber nie gewohnt habe, meiner Stadt, in der ich nicht mehr wohne und wieder war es ein großartiger Abend bei großartigen Freunden, mal wieder der letzte vom Urlaub, und auch das bisschen Wehmut beim letzten Spaziergang zurück zum Parkplatz, beim Nachfühlen wie es war, hier zu leben und beim kurz vorstellen, wie es wäre, wieder hier zu leben. Und auch das hinterherdenken von Erinnerungen, dass durchatmen, schlendern und in mich hineinhorchen, wie aufgewühlt all das Heimweh denn gerade macht, sind nicht mehr neu. So lange bin ich schon weg.
Und ich steige in das Auto meiner Mutter und es läuft dramatische, italienische Musik und der Moment wäre so schon wertvoll gewesen, aber jetzt passt auch noch der Soundtrack zum Augenblick, wie selten ist das. Gut, es ist nur Andrea Boccelli, das ist zu kitschig, um wirklich perfekt zu sein, aber wenigstens ist es italienisch.
Und ich mache die Scheibenwischer an und ich parke aus und ich werfe mir im Rückspiegel einen Blick zu und wünsche mir kurz, dass meine Augen dunkler geschminkt wären.
Es gibt so viel im Moment, über das ich reden und nachdenken muss.
Ich stehe in der Küche und schneide Gemüse und danke darüber nach, wie sicher ich mir einer Beziehung sein müsste, wie sicher dass alles bis in die Ewigkeit bleiben soll, bis ich ein Kind bekommen möchte.
Dann fällt mir ein, dass F., eine Freundin schwanger ist. Der Vater ist nicht da, er ist weg, in einem anderen Land, einem anderen Kontinent und mit dem Herzen ist er auch nicht richtig bei der Sache. So viel ist passiert in dieser fernen Stadt, alles hat sich geändert und jetzt soll sie einen Praktikumsbericht darüber schreiben. Wie absurd.
Aber sie ist ruhig und glücklich und sieht überhaupt nicht nach der Katastrophe aus, für die ich ein Baby ohne funktionierende Partnerschaft bisher wohl gehalten habe. Und ich will mit ihr an einem Tresen sitzen, ich will dass wir beide einen dampfenden Tee vor uns haben und ich will sie fragen: Wie ist das? Wie machst Du das? Wie siehst Du das alles?
Und dann will ich alles hören, von der Angst und von dem Glück, davon was hätte besser sein können und davon, wie gut es so ist. Wir haben zusammen schon über Sorge- und Umgangsrecht gesprochen und wie gut man sich alles überlegen muss.
F. wird einen Jungen bekommen. Das ist ein bisschen schade, denn ich habe mir eben gerade ausgedacht, dass ich gerne "Riot GRRRL" auf ein Babyshirt sticken würde. Aber natürlich braucht genau das die Welt. Jungen, die von Menschen wie uns aufgezogen werden.
Und da ist diese Sache, die sie gesagt hat, die mich an etwas erinnert was ich schon fast vergessen hatte. Ein Bild, an dem ein Gefühl hängt. Wir legen auf und ich überlege kurz, wo ich damit jetzt hinsoll. Mit dem Bild und dem Gefühl.
Ich will es malen. Es soll auf Papier sein. Dann muss ich überlegen, welches Skizzenbuch ich nehme, falls jemand es durchblättert und das Bild sieht. Falls es so wird, wie ich es mir vorstelle. Irgendwann bin ich zu einem Menschen geworden, voll von Gefühlen und Bildern die lieber ungesehen bleiben sollen. Ich frage mich, wann.