Lieblingsmenschen
Kartoffelsuppe. Mit Blumenkohl. Ich, sitzend auf dem orangen Stuhl der hübsch ist. Hübsch sind auch die gleichmäßigen Dielen und die künstlerischen Bilder am Kühlschrank, das chinesische Geschirr im Regal. An der Wand an einem Nagel hängt ein Brötchen, grundlos.
Ich kann mich nicht satt sehen. Ich versuche es, ich gucke bewusst: die Haare, die Rundung der Stirn, die Lachfalten an den Schläfen, die Linien des Körpers, schlank und wendig, kompakt. Ich gucke und er kocht, bewegt sich schnell, schneidet Gemüse, brät Fleisch, zündet den Gasherd mit einem Streichholz an.
Ich werde nicht satt, ihn kochen zu sehen. Oder aufspringen, Wasser holen für uns beide, vielleicht auch nur für mich. Vielleicht helfe ich, schneide Zwiebeln oder schäle Kartoffeln, aber eigentlich kocht er und ich versuche, ihn nicht dafür zu lieben, dass er das tut. Oder putzt. Oder mir Wasser holt.
Lieber will ich ihn lieben, weil ich ihm von diesen Gedanken erzählen kann, und von allen anderen. Weil ich keine Angst haben muss, ihn zu verlieren und es mir möglich ist, zum ersten Mal diese Angst zuzulassen, zu spüren und auszusprechen. Weil ich nackt sein kann und fröhlich und unangestrengt. Auch wenn das Licht an ist. Weil ich nicht kämpfen muss, für all die Dinge, die ich wichtig finde, zwischen Menschen, weil ich mich nie verteidigen muss, nur ausdrücken.
Die Suppe ist fertig und sie sieht hässlich aus und schmeckt fantastisch. Bevor sie alle ist, ist das Gespräch traurig geworden: es geht um große Fragen, um Utopien und zu viele Dinge die nicht gut sind. Ich glaube, ich verstehe ihn besser als er glaubt, er erklärt sich und ich sehe die langen Wimpern und traurige Augen. Zum Trösten suchen wir nach „confused dogs“ auf YouTube und mir fallen schnell die Augen zu.
Wenn ich wieder fahre, in den letzten Momenten davor, kommt meistens der Gedanke: Ich hätte mehr Fotos von ihm machen sollen. Von den bisherigen Momenten des Wiedersehens weiß ich: Ich vergesse nicht das Gesicht, ich vergesse die Farben. Alles ist dunkler, die Haare, die Augen, der Bart. Ein paar mal schon hat mich das überrascht.
Der Abschied naht und ich stelle mir vor, wie ich aus dem Zugfenster sehe und auf Land zwischen unseren Städten blicke, das mir soviel mehr und weiter vorkommt, seit aus den beiden Orten unsere Städte geworden sind. Ich stelle mir vor, dass ich melancholisch bin und dass der Herbst in diesem Moment anfängt, auf der Fahrt zurück in mein Leben, das nur ab und zu Besuch von ihm kriegt.
Und ich weiß, dass ich wieder schreiben muss. Ich weiß noch nicht wie, und wo weiß ich auch eigentlich nicht. Hier bin ich nur aus Verlegenheit. Und schon wieder muss ich zurück zu meiner Sprache finden und einen Raum, wo sie hinkann und mir lieb ist, ohne mir Last zu sein.
Und wie immer ist der Herbst eine gute Zeit, damit anzufangen.
Private Tragödien haben die fast verlorene, beste Freundin zurück in mein Leben gespühlt und Gedanken an sie, Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit, begleiten mich durch diese Tage.
Erinnerungen an ihre spezielle Stärke, die zwischen den vielen Tränen so plötzlich auftaucht und so grundsolide ist, dass man stets von neuem fast überrascht ist. Obwohl sie ihr so gut steht, die Stärke.
Ein fremder Mann, gestern auf dem CSD hat mich "Amazone" genannt, schmunzelnd und ich hab ihn angelächelt. "Wir waren wirklich wie Amazonen", denke ich dann; wie wir auf unseren Fahrrädern jeden Tag durch das Feld, durch den Wald, durch die Wiesen zur Schule gefahren sind, den gesamten Schulstoff für Prüfungen und unser gesamtes soziales Teenagerleben durchgegangen sind. Das gemeinsame Geschichtsprojekt haben wir über Amazonen geschrieben, wir haben über eine Staatsgründung gewitzelt; sie die Königin, ich die Hohepriesterin; und haben auf unseren Fahrrädern die ersten Lieben, die letzten Schulhoffeinde, und die ersten richtig schlimmen Krisen durchgestanden. Zusammen.
Niemand kennt mich wie sie und in diesen Stunden, in denen wir jetzt telefonieren und chatten, wird mir bewußt, dass sie mir mehr gefehlt hat, als ich dachte. Sie hat mir so gefehlt.
Wenn diese Geschichte schlecht für sie ausgeht, werde ich meine beste Freundin zurück bekommen. Für gewisse Zeit, zumindest.
An die Amazonen muss ich manchmal noch denken, immerhin standen sie am Anfang eines Weges, der mich jetzt in meine berufliche Zukunft führt. Manchmal steht auch eine von ihnen hinter mir und schüttelt über mich und mein Verhalten den Kopf. Manchmal, zwinkert mir eine zu, meistens in Momenten in denen ich mich frage, ob ich in einem Streit nicht lieber hätte nachgeben sollen.
Er ruft nur kurz mal an um mir zu sagen dass er mich liebt.
... und dann ging es los.
Diese Geschichten, die mit den zwei Menschen, die zusammenfinden, sind wie Achterbahnen. Oder eher wie Wasserrutschen. Diese, auf denen man erst lange und langsam den steilen Berg hinaufgezogen wird und man weiß schon, was gleich kommt und freut sich, aber es daaaaaaaauert noch... und dann hat man einen gewissen Punkt erreicht, überschritten und alles geht wahnsinnig schnell. Und man kann nichts mehr machen, außer die Arme in die Luft zu werfen, das Kribbeln zu genießen und laut zu schreien. "Wuuuuuu!"
Genau das mache ich gerade. Auf einmal war die Anhöhung überwunden und es ging schnell. Was bedeutet, dass das Tempo immer größer wurde und alles auf einmal zu groß, zu wichtig, zu bedeutsam, um es in seinen Details im Internet plattzutreten.
Ich befinde mich in einem Sommernachtstraum. Vielleicht eher ein Sommermärchen. Diese wunderschöne Stadt, flirrende Hitze, Springbrunnen, Frühstücken in Cafés, Spazierengehen mit spontanen Kinobesuchen, Waghalsige Kletterpartien auf Spielplätzen und Bäumen, Schaukeln, Feuerwerke, Ausruhen in belebten Parks und die heißen Füße in den kühlenden Rhein halten, der die beiden Länder trennt, die meine sind und wurden. Und alles zu zweit.
Noch bin ich hier, aber nicht mehr lange. Immernochnicht weiß ich, wohin es bald geht. Das macht Angst und wirft Schatten auf all das Schöne, was jetzt ist. Aber dass es schön ist und jetzt, das überwiegt.
Ein Sommerabend im Park beim Fluss. Wiese, eine rosa Decke, dann wir, dann Sommerluft, dann Weidengeäst und Blattwerk. Dann Himmel.
Lastschiffe kuttern vorbei, wir lachen viel, seit ein paar Monaten mag ich Zigarettenrauchduft. F., der vorbei kommt und bei uns sitzt, was mich freut. F., der im Gespräch aufspringt und auf einen Baum klettert. Vielleicht, weil er so ist, weil er es einfach tun will. Vielleicht will er mir gefallen. Der Igel, der vorbeikommt. F., der aufspringt und zum Igel läuft, um ihm ein Stück Gurke zu bringen.
Es ist schön, mit Freunden im Park zu sitzen und diesem Jungen zuzusehen. Keine rasende Gefühlsexplosion, noch nicht. Aber etwas ist da und breitet sich langsam aus, wie die Wärme aus einem Glas Tee, wenn man vorher gefroren hat.
Was ich brauche, denke ich, als ich zu Hause ins Bett gehe, ist Zeit. Viel mehr Zeit. Sowas muss sich entwickeln, ich kann keine Beziehungen aufbauen, wenn ich ständig auf die Uhr schaue. Ich brauche mehr solcher Sommerabende, ich brauche die Illusion von Ewigkeit, einfach Zeit. Dieses Leben-auf-Zeit, Häppchenbindungen zu Menschen aufbauen, von denen man sich bald wieder trennt. Ich kann in mir richtig fühlen, wie widersinnig, wie falsch das ist.
In den ersten Septembertagen werde ich diese Stadt verlassen. Der Sommer ist in jedem Jahr zu kurz. In diesem Jahr wirft der Herbst seine Schatten vorraus in die Sonnenzeit.
"Wenigstens treffen diese Gefühle jemanden, der sie zu würdigen weiß", sage ich, als sie davon erzählt wie unglaublich schön alles eigentlich ist und wie schrecklich weh es tut, weil es trotzdem nicht reicht. Nie reichen wird. Freude und Leid, Ambivalenzerdbeben, bittersweet.
"Das hast Du schön gesagt", sagt sie. Mag sein. Und sie schreibt es ja nicht auf.
Schon blöd unsere Kultur. Da sitze ich und rechne und grübel, ob ich wirklich die Kosten und Mühen auf mich nehme, für zwei Tage mit einem fröhlichen Haufen zusammenzusein und dafür einmal die Bundesrepublik zu durchqueren. Die Bundesrepublik und geschätzte 2 Kilometer Frankreich. Ich rechne und recherchiere und plane... ich ringe mich zu einem Ja durch, um in der nächsten Stunde zu überlegen, ob ich wirklich soll, ob das nicht zu verschwenderisch ist, zu unvernünftig. Als ich mich auf der Suche nach Rollenvorbildern ertappe, die vorleben was ich vorhabe, fällt mir auf, wie blöd das ist.
Wäre es nicht für 70 Menschen, darunter dicke, wichtige Freunde, für Gemeinsamkeit und Musik, sondern wäre es für einen Menschen, wäre es für Liebe statt für Freunde, hätte ich nicht überlegt. Dann darf man das, sogar öfter.
Und ob ich fahr!
das wort für diesen tag, für diese zeit, für dieses gefühl.
"Das war toll, das machen wer jetzt öfter!" sagt sie, als sich mich drückt und in die Nacht hinausgeht. Sie ist der erste Mensch mit sächsischem Akzent, den ich mag. Ich hab eigentlich gehofft, dass die Menschen, die in diesem Teil der Welt meine Freunde werden, gänzlich andere Akzente haben, bin aber gut dabei, mich damit abzufinden. Und wenn sie französisch spricht, dann merkt man es ja auch gar nicht. Wichtig ist jetzt, in diesem Moment, in dem sie in die Nacht stapft nur, dass sie meine Freundin wird. Jetzt gerade. Eine richtige.
Anderswo ist jemand das schon sehr lange und trotzdem ist es nicht leicht. Ich glaube, ich habe eine Aufgabe, als Freund, ich werde gebraucht und es klappt aber nicht so richtig. Manchmal ist es so leicht, stundenlang zuzuhören und das richtige zu sagen, und manchmal... da will es nicht funktionieren. Das macht mich befangen, über Ländergrenzen hinweg.
Ich mag die Geschichte von L., einem der sozialkompetentesten Menschen die ich kenne. Eines Tages bekam L. eine Sms von ihrer Mitbewohnerin. "Es ist Schluss. Ich komme nach Hause. Es geht mir schlecht, aber ich will nicht reden". Sie haben nicht geredet. Aber als die Mitbewohnerin nach Hause kam, hatte L. die Wohnung geputzt, Blumen besorgt und sie fand ihr Bett frisch bezogen vor. L. hat ihren Wunsch respektiert, nichts zu sagen und hat trotzdem einen Weg gefunden, sie zu trösten und ihr ihr Mitgefühl zu zeigen.
Seit Tagen überlege ich, was ich tun könnte. Auf welche Weise kann ich das Bett von diesem Freund frisch beziehen?