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Phae - 1. Apr, 01:34

Ein schwieriger Brief

Jetzt, wo ich so drüber nachdenke, kann ich mir nicht erklären, warum ich hier fast noch nie davon erzählt habe.

Dass S. der Farbenfreund damals gestorben ist, war ein bisschen komisch, denn eigentlich hatten wir die ganze Zeit Angst um das Leben von jemand anderen. Das klingt sehr dick aufgetragen aber ich kann mich noch daran erinnern, dass ich genau das zu einer Freundin gesagt habe. "Da machen wir uns monatelang Sorgen, dass M. sterben könnte und S. ist auf einmal tot."

M. war komisch, als sie zu uns kam. Sie war die ungewöhnliche Kombination aus schwarzer Kleidung und Make Up, einem Nasenpiercing und einem glockenhellen, fröhlichen Lachen, viel guter Laune und quriligem Rumgehüpfe. Ich glaube, meine Lieblingserinnerung an die Zeit davor war, als wir alle an einem Sommerabend vor dem Lieblingsclub gesessen haben und ihr Freund aufeinmal laut aufschrie, weil sie ihm in einem Anfall von Lebenslust in die Hand gebissen hatte. Glockenhelles Lachen erklang.

"Angst um das Leben von jemand anderem"; "an einem Sommerabend"; "Glockenhelles Lachen" - oh man. Aber ich hab meine traurige Musik angemacht, es wird nicht besser, glaub ich.

Es hat viel zu lange gedauert, bis wir was gemerkt haben. M. war verrückt und quirlig und Vegetarierin. Dann war sie Veganerin. Sie hat den ganzen Schultag damit verbracht, die kleinen weißen Hautfetzen von einer Mandarine abzuzupfen, bis sie irgendwann gegessen hat. Manchmal hat sie noch ein paar Stücke abgegeben. Mit vierzehn habe ich in Sugar und 16 all diese Berichte über Magersucht gelesen, mit 18 habe ich nichts verstanden. Wenn sie Veganerin sein wolle, müsste sie besser auf sich aufpassen, haben wir ihr gesagt. Sojamilch! Tofu! Dafür fehle ihr das Geld, hat sie geantwortet und wir haben ernsthaft überlegt, zusammenzulegen und ihr einen Präsentkorb mit veganischem Bioessen zu kaufen. Rührend und saublöd waren wir damals.

Irgendwann ist sie endlich ins Krankenhaus eingeliefert worden, da waren wir auch dumm und dachten, dass sie jetzt gesund werden muss. Und dann ist der S. gestorben, am Tag vor ihrem Geburtstag, wo wir sie alle besuchen wollten. "Da sieht man wieder mal, wie egoistisch Selbstmord doch ist"; hat Bree in der letzten Woche im Fernsehn gesagt und der Gute wird sich gefallen lassen müssen, dass sie hier zitiere.

In den nächsten Wochen habe ich viel gelernt. Fürs Abi natürlich, irgendwie ging es ja weiter. Aber ich habe auch gelernt, dass man Therapien abbrechen kann, dass man die Beutel mit dem Nährbrei auf dem Klo auskippen kann, dass man ganz viel Tee trinken kann, der die Nährstoffe wieder ausspühlt. Und dass das Wissen, mit dem man seinen Körper reduziert weit über den Möglichkeiten der Bewachung duch die Krankenschwestern so einer Abteilung für innere Medizin überwiegt, wo die ganz schweren Fälle, die man erst mal ein bisschen am Leben erhalten muss, hinkommen. Sollte ich je den Wunsch haben, selbst magersüchtig zu werden, muss ich mich gar nicht erst in diesen Internetforen belesen, ich weiß jetzt schon, wie es geht.

So weit so gut. Wir hatten Abi, M. hat überlebt. Und auch Abi gemacht, wie auch immer sie das hingekriegt hat. Wie die Geschichte ausgegangen ist, ist der wirklich krasse Teil. M. lebt. Sie studiert an der gleichen Universität im gleichen Semester wie ich. Sie wohnt in meiner Stadt, ein paar Straßen von hier entfernt. Wir haben Kontakt, wir sehen uns selten. Und jedes Mal sieht sie dünner aus. Wie sie es schafft, diesen Zustand seit drei Jahren aufrecht zu erhalten, jeden Morgen aufzustehen und irgendwie durch die Uni zu kommen, wie sie es schafft, auch noch einen Job anzunehmen - ohne Therapie, ohne Gesundungskarriere und mittlerweile fast ohne Freunde oder soziale Kontakte - das ist der Teil, den ich nicht verstehe. Ich wärhenddessen habe es geschafft, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass das Mädchen mit dem glockenhellen Lachen von damals nicht mehr mehr wird, dass sie irgendwann verschwunden sein könnte. Ich habe es nicht aufgegeben, an sie zu denken und nach ihr zu fragen, ihr zu schreiben, mich mit ihr zu verabreden und mich unter fadenscheinigen Ausreden von ihr versetzt zu werden. Aber ich habe es fast aufgegeben, nachts um sie zu weinen und fürchterliche Angst zu haben. Es wird wohl stimmen, dass man sich an alles gewöhnt.

Aber zwischen diesem und dem letzten Jahr habe ich den Fka zum ersten Mal wieder gesehen und länger mit ihm geredet. Und er hat mir erzählt, dass er nicht mehr kann, dass er kurz davor ist, aufzugeben. Es geht nicht mehr. Vor allem kann er nicht hart und erbarmungslos sein, er kann nicht über das reden, was in spitzen Knochen aus ihr heraus sticht und nicht zu übersehen ist. Das ist sehr schlimm denn der Fka und ich, wir sind alles, was ihr geblieben ist. Und ich habe in dieser Sache ein bisschen auf ihn und ihre sehr alte Freundschaft vertraut, womit ich es mir bestimmt zu einfach gemacht habe.

Ich erzähle das alles jetzt, weil ich M. gerade einen Brief geschrieben habe. Ich habe ihr geschrieben, dass ich nicht mehr damit umgehen kann, wie wir ihre Krankheit und ihre Probleme seit Jahren tabuisieren und über meine Probleme reden, wenn wir uns schreiben, aber nicht über ihre. Jetzt, wo ich weiß, dass der Fka - der sonst immer sehr gerne erbarmungslos ehrlich zu den Menschen war und seine Meinung in sehr unschönen Worten großzügig verteilte, es nicht kann, muss ich es wohl endlich tun. Ich habe eine Menge sehr harter und sehr ehrlicher Dinge geschrieben, ich habe Wörter wie "psychische Störung" und "Magersucht" benutzt und es ist ein bisschen schwierig, solche Briefe zuende zu schreiben und abzuschicken. Aber eben gerade hab ich es gemacht.
ruebe (Gast) - 27. Feb, 13:39

arrghh

ich hab jetzt zum 2. mal geloescht was ich geschrieben, zum kotzten, das!

wieso, schrieb ich, haben die ueberwiegende mehrzahl der menschen, die mir uber das mir-egal hinaus nicht egal sind, den dreidoppel haesslichen a offen, ihre offenkundig hochsensiblen empathischen antennen oft und gern im filz potentieller autodestruenten zu verfangen wie kletten im wollpulli?

dann schrieb ich, das mitleid den bemitleideten bestaetigt und dass leute als wirklich allerletztes mittel mal ihr selbstbild aendern, dem sie schließlich ihre lebensfuehrung anpassen. wer leiden will will das solange, bis er merkt, dass das scheiße ist. weil es richtig viel arbeit ist fuer jemanden, umzudenken, und wer geht schon gern zur arbeit. ob man die person dann psychisch krank, kaputt oder arme sau nennt, hoehnisch lacht der teufel auf der schulter des patienten... wobei eigentlich faule sau der richtige ausdruck waere. meines wissens gibts da auch papers drueber...

dann glaubich dass man so selbstgebackenen ungluecksaspiranten einfach schonungslos normalitaet vorleben sollte, bis sie das auch mal wieder wollen, sich normal fuehlen. dabei sollte man aber das augenmerk auf sich selbst legen, ist sonst eh keinem geholfen, wenn alle nur heulen. klingt erstmal menschenverachtend, ist aber bei genauerer betrachtung eigentlich aufrichtiger.

was ich glaubich am ehesten hier sagen wollte ist, dass mich weniger wurmt, wie es dem target deiner naechtlichen heulwutbriefe geht, als wieso du dir sonen gedanklichen backround leistest. passt nicht in den kontext dessen, was du sonst so schreibst. schreib mal wieder! und verzeih die faekalwoerter... rueb

Phae - 29. Feb, 17:50

Was Du schreibst, stimmt.
Magersucht zu überwinden ist schwer, aber um damit überhaupt mal anfangen zu können, muss die Betroffene erst mal gesund werden _wollen_. Das kann sie nur ganz allein schaffen, niemand kann es ihr abnehmen und - egal ob selbstverschuldet oder nicht - man darf sich nicht von schlimmen Schicksalen in seinem Umfeld runterziehen lassen, damit ist niemandem geholfen.

Soweit.
Das mit dem "Selbst schuld" ist problematisch. So wie ich die Sache sehe und verstehe, werden Mädchen in der Regel nicht magersüchtig, weil sie sich zu viele Hochglanzzeitschriften angesehen haben. Eine magersüchtige Patientin, habe ich mal gelernt, während auf den Rostocker Straßen die G8 Demostrationen tobten, ist nicht nur ein Krankheitsbild, sondern auch ein Symptom: für eine Störung in einer Familie. Etwas läuft ganz furchtbar schief und das zeigt sich der Außenwelt darin, dass ein Kind seelisch krank wird und unglaubliche Energien entwickelt, sich selbst kaputt zu machen. Wenn wir also Menschen mit psychischen Problemen eigenes Verschulden am eigenen Unglück vorwerfen, kommen wir irgendwann an den egoistischen Selbstmördern vorbei, der alten Werther-Diskussion und landen bei der Frage, inwieweit wir frei sind, unser Schicksal und unser Handel selbst entscheiden zu können, oder inwieweit wir von den Umständen unserer Umgebung determiniert sind.

Da diese Debatte schon einige Jahrtausende geführt wird, möchte ich mir nicht anmaßen, mich zu einer Antwort durchzuringen und urteilen zu können, inwieweit das Leiden anderer selbstverschuldet ist oder nicht. Genauso wenig, ob mein Mitleid (im herkömmlichen Sinne des Wortes, als auch im kunderaschen: Mit-Leiden) angemessen oder verschwendet ist. Was ich weiß: in einer Welt ohne Mitleid will ich nicht leben, ein Mensch, erst recht ein Freund ohne Mitleid will ich nicht sein.

Solange meine Kraft reicht - und das tut sie, zweifelsohne - werde ich mir den Luxus des gedanklichen Backround also leisten. Dass dieser Kontext nicht zu meinem sonstigen passt, verwundert mich - liegt er doch in meinem Inneren gleich neben den ganzen anderen Dingen, die ich hier schreibe und das schon immer und weiterhin.

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